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Alle Jahre wieder? – Lockdown, Likör oder das Ende der Weihnacht

Jasmin Lincke

„Weihnachten ist seit jeher ein Fest der Entscheidungen: Kerzenlicht oder LED? Geschenkpapier oder umweltfreundliche Alternative? Muss die Familie wirklich singen, wenn keiner auch nur ansatzweise den Ton trifft? - Mit diesen Bagatellen wurde sich jahrein jahraus herumschlagen. Doch 2020 geht es um die handfeste Frage, ob Weihnachten überhaupt stattfindet?“

Der Weihnachtsmann verschluckte sich an einem Vanillekipferl und begann zu husten. Tränen schossen ihm in die Augen, als er die Zeitung sinken ließ und prustend nach dem Becher heißer Schokolade tastete. Rasch nahm er einen kräftigen Schluck, während er versuchte mit der anderen Hand seinen Rücken zu erreichen. Zwar renkte er sich dabei fast die Schulter aus, aber das Klopfen half, sodass er nach ein paar schreckvollen Sekunden wieder einigermaßen Luft bekam.

Schwer atmend ließ er sich in den Sessel zurücksinken. Kekskrümel hatten sich in den weißen Bart verirrt und er fegte sie unwirsch beiseite, bevor sein Blick erneut auf die Zeitung in seinem Schoß fiel und schließlich an der Kakaotasse hängen blieb. - Er brauchte jetzt etwas Stärkeres!

Die alten Knochen knirschten, sobald er sich erhob, um über am Boden verstreute Spielzeuge zu steigen und sich an der gegenüberliegenden Schrankwand zu schaffen machte. Stirnrunzelnd zupfte er eine löchrige Socke mit Tannenbaummuster vom Griff der Glasvitrine, ehe er die Flaschen darin in Augenschein nahm.

Der Bestand schien in den letzten Wochen beträchtlich geschrumpft. Deprimiert musterte der alte Mann die kümmerlichen Überbleibsel. Glühwein vielleicht? Nein, besser! Apfel-Zimt-Likör!

Er zog ein Schnapsglas hervor, wählte nach kurzem Zögern allerdings ein Größeres. Dann gab er die bernsteinfarbene Flüssigkeit hinein und kippte sie in einem Zug hinunter. Als sich ein wohliges Gefühl der Wärme in seiner Magengegend ausbreitete, schloss er zufrieden die Augen. Ho, ho, ho! Nichts ging über Ms. Claus‘ Apfel-Zimt-Likör! Noch einmal füllte er das Glas mit dem würzigen Amaretto, während er nachdenklich die Brille zurechtrückte.

Das eben Gelesene wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen: Findet Weihnachten dieses Jahr statt? - Tja, das war eine gute Frage. Eine, auf die nicht einmal der Weihnachtsmann eine Antwort wusste. Müde fuhr er sich mit einer Hand über die Augen und führte mit der anderen das randvolle Scotch-Glas an die Lippen. 2020 war für die ganze Welt ein hartes Jahr gewesen, die Firma Weihnachtsmann bildete da keine Ausnahme. Die Corona-Pandemie hatte auch den Nordpol nicht verschont und war ein Problem. Normalerweise liefen die Vorbereitungen für Weihnachten um diese Zeit auf Hochtouren, doch inzwischen stand die Spielzeugproduktion bereits mehrere Wochen still. Seit im Sommer eine Elfe das Virus aus dem Hawaii-Urlaub eingeschleppt hatte, galten im Weihnachtsdorf strikte Vorsichtsmaßnahmen. Die Wichtel befanden sich in Kurzarbeit, es herrschten Abstandsregeln und Maskenpflicht. Obwohl dem Weihnachtsmann die beschlagenen Brillengläser auf die Nerven gingen, sah er ein, dass die Hygienevorschriften notwendig waren. Immerhin gehörten Ms. Claus und er selbst mit seinen dreihundertvierzehn Jahren zur Risikogruppe. - Oder waren es bereits dreihundertfünfzehn? Er seufzte schwer und trank noch einen Schluck. Im Moment fühlte er sich jedenfalls entsetzlich alt. Betrübt trat er ans Fenster und sah mit leerem Blick nach draußen. Irgendwie fand ein halb fertiges Holzpferd den Weg in seine Hände. Es war ja nicht nur das Virus, welches einen Schatten auf das diesjährige Weihnachten warf. Vielmehr fühlte es sich an, als hätte das Fest an sich Bedeutung verloren. Und das nicht erst seit gestern. Dank der Klimaerwärmung hatte es seit Jahren nicht mehr geschneit. Ebenso rar schienen gute Taten - von Frieden auf Erden ganz zu schweigen. Anstelle von Freude und Nächstenliebe waren Konsum und Digitalisierung gerückt. Weihnachtskarten schrieb niemand mehr per Hand und selbst Wunschzettel trudelten nur noch über Facebook, Instagram und Co. ein. Nicht ein handgeschriebener Brief hatte ihn dieses Jahr erreicht, überlegte er traurig und begegnete seinen wässrigen Augen im Fensterglas. Abschätzig wandte er den Kopf nach rechts und links. In dem ausgefransten Weihnachtpullover machte er einen bedauernswerten Eindruck. Sein Gesicht hatten auch schon einmal weniger Falten geziert und wurde der weiße Bart langsam schüttern? „Was wird aus Weihnachten?“, fragte er sein jämmerliches Spiegelbild. Was er eigentlich meinte, war: Lohnt es sich noch? Natürlich blieb der alte Mann in der Scheibe, ihm die Antwort schuldig. Mutlos tauschte der Weihnachtsmann das Holzpferd gegen die Likörflasche. „Vielleicht sollte ich mich zur Ruhe setzen“, überlegte er laut. „Vielleicht ist jetzt der ideale Zeitpunkt.“ Da niemand sonst eine Meinung zu haben schien, fuhr er fort: „Der Weihnachtsmann ist überflüssig geworden. Wer sich etwas wünscht, bestellt es mit viel Verpackungsmüll über Amazon.“ Verbittert trank er seinen Becher leer. „Und dann noch dieses Amazon-Prime“, lallte er. „Wie soll ich da mithalten?“ Ja, womöglich war es besser, einfach Schluss zu machen. „Schluss mit Weihnachten. Schluss mit der Plackerei!“, polterte er. Immerhin waren Rudolf und die anderen auch nicht mehr die Jüngsten und wenn er sich den gefährlich über den Bauch spannenden Gürtel so ansah, war fragwürdig, ob er selbst überhaupt noch durch den Kamin passte. Die Fitnessstudios waren schließlich seit Wochen geschlossen - nicht, dass er vor dem Lockdown allzu oft dort gewesen wäre … Frustriert kehrte er zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich ächzend in den Sessel fallen. Es führte kein Weg an der Wahrheit vorbei: Er war alt und Weihnachten veraltet. Aber während er nach dem Plätzchenteller griff, um sich der letzten drei Lebkuchen anzunehmen, erweckte plötzlich ein dicker Umschlag seine Aufmerksamkeit. Neugierig zog der Weihnachtsmann das Papier hervor und stellte überrascht das Glas ab, als ihm klar wurde, was er da in den Händen hielt. Es war ein Brief. Ein echter Brief! Voller Ehrfurcht strich er mit den Fingern über den pergamentartigen Einschlag, bevor er ihn aufriss. Zum Vorschein kam eine einzelne Seite, die nur wenige Worte enthielt: Lieber Santa, ich wünsche mir, dass du uns auch in diesem Jahr besuchen kommst. Drei Mal las der alte Herr die Zeile, ehe er das Papier zusammenfaltete und gerührt in seine Brusttasche steckte. Dann atmete er tief durch, stand entschlossen auf und kippte die Reste des Likörs in einen Blumentopf. „Ms. Claus!“, rief er euphorisch, den Fuß in einen Stiefel schiebend, während er gleichzeitig nach seiner Maske mit den Rentieren griff. Seine Frau steckte den Kopf zur Tür herein, als er gerade den zweiten Schuh über der Lampe gefunden hatte. „Ja Liebling?“ „Sag den Wichteln, die Kurzarbeit ist beendet.“ Er spürte seine Lippen sich unter dem Bart zu einem Lächeln verziehen. „Wir haben ein Weihnachtsfest vorzubereiten.“