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Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr. Sie.

Jasmin Lincke

Ms. Williams stand an der Tafel und hatte uns den Rücken zugewandt. Das lange, blonde Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern, während sie in gut leserlicher Handschrift das Thema der Stunde anschrieb.

Personalpronomen, entzifferte ich mühevoll. Darunter: Ich. Du. Er/Sie/Es.

Als sie die letzten drei Worte jeweils mit blau, rosa und lila unterstrich, quietschte die bunte Kreide zwischen ihren Fingern und mein Blick wanderte zum Fenster.

Gedankenverloren betrachtete ich die beschlagene Scheibe. Obwohl die Heizung auf Hochtouren lief, hatten sich Wassertropfen wie Tränen an den Rändern des inneren Rahmens gesammelt. Über dem rostigen Heizkörper vermischten sich leise stöhnend flimmernde Schwaden mit der stickigen Luft des Klassenzimmers und meine Augen folgten einem einsamen Tropfen das Glas hinabrollen. Dann begegnete ich dem kantigen Gesicht in der Spiegelung und sah rasch weg.

Wie so oft hatte ich plötzlich das Gefühl meine Haut spanne zu fest an den Knochen und Fingernägel würden über die Innenseite meines Kopfes schrammen. Unbehaglich zog ich am Kragen des Spiderman-T-Shirts, doch das Kratzen tief in mir drin, wollte nicht verschwinden.

Ms. Williams - Emma, wie wir sie nennen durften - hatte indessen ihr Tafelbild beendet und rieb die Spuren der Kreide von ihren Händen. Wir. Ihr. Sie, las ich in ihrem Rücken, bevor sie sich mit einem Lächeln zu uns herumdrehte und das leise Gemurmel meiner Mitschüler schlagartig verstummte. Obwohl sie erst seit Kurzem an unserer Schule war, hatte die ganze Klasse sie vom ersten Tag an ins Herz geschlossen. „Personalpronomen“, eröffnete Emma immer noch lächelnd in die Runde. „Können Substantive ersetzen …“ Passend zu ihren sanften Augen hatte sie eine angenehm warme Stimme. Ein Fransenpony rahmte das herzförmige Gesicht und wenn sie lachte, bildeten sich Grübchen unterhalb ihrer Wangen. Trübes Neonlicht spielte mit der silbernen Kette um ihren Hals und hielt meinen Blick gefangen. Als sie sich eine verirrte Locke aus der Stirn strich, hob ich automatisch die Hand zu meinem kurzen, braunen Haar, zuckte jedoch umgehend zurück. Emma wies uns an das Schaubild zu übernehmen und sofort wurden Federmappen eifrig nach Blau, Rosa und Lila durchsucht. Überall ratschten Reißverschlüsse, Hefte raschelten und Stiftkappen rollten klappernd über die Tische. Ich hatte unzählige Buntstifte: gelbe, grüne, blaue und sogar Türkis. Nur Rosa fehlte zu meiner Enttäuschung. Neidisch beobachtete ich Anna am Nachbartisch, in ihrem gänseblümchenbedruckten Rock mit einem pinken Filzstift hantieren. Ihre Sitznachbarin Laura hatte sogar einen Textmarker, mit dem sie sich gerade die Finger lackierte. Betrübt betrachtete ich meine eigenen, dunkel geränderten Nägel und entschied mich schließlich anstelle von Rosa für Schwarz. Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr. Sie - Es dauerte eine Weile bis jeder verstanden hatte worum es ging, doch schließlich forderte Ms. Williams uns auf, in von ihr gebildeten Sätzen das Substantiv durch entsprechende Personalpronomen auszutauschen. Eigentlich war es leicht, trotzdem machte ich mich so klein wie möglich und vermied es Emma anzuschauen. Umso entsetzter war ich, dass sie mich direkt ansprach. „Quinn?“ Ihre Stimme ließ mich erschrocken zusammenfahren und der für sie typische, blumige Geruch stieg mir in die Nase. Als ich schüchtern aufsah, stand sie direkt vor mir. Ihre blauen Augen blickten mich fragend an. „Möchtest du es versuchen?“ Ängstlich schüttelte ich den Kopf und sank noch tiefer in meinem Stuhl zusammen. „Komm schon, Quinn“, ermutigte Ms. Williams mich geduldig. Sie schenkte mir ein freundliches Lächeln. „Du kannst das.“ Ich wollte nicht, doch ich spürte die neugierigen Blicke und wusste, ich hatte keine Wahl. Ein ungutes Gefühl brachte das Kratzen unter meine Haut zurück und ich bemerkte meine Nägel sich wie von selbst in die schwitzenden Handinnenflächen krallen. Mir war mit einem Mal entsetzlich schlecht und mein Herz klopfte so laut, dass ich sicher war, die anderen müssten es hören. Mit hochgezogenen Schultern erwartete ich meinen Satz. „Quinn ist in der zweiten Klasse“, entschied Emma und zwinkerte mir aufmunternd zu. Ich aber zuckte erneut zusammen. Eine eiskalte Hand schloss sich um meine Eingeweide, sodass sämtliche Luft meinen Lungen entwich. Ich musste schlucken, denn meine Zunge war plötzlich unfassbar schwer, doch der Kloß im Hals wollte nicht verschwinden. Fiebrig leckte ich mir die trockenen Lippen, während Angst so dick wie Pech in mir aufstieg. „Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr oder Sie?“, hörte ich Emma von weither zu mir durchdringen. Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr. Sie - Die Worte geisterten in Endlosschleife durch meinen Verstand. Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr. Sie - Ich kannte die Antwort. Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr. Sie - Aber ich traute mich nicht sie auszusprechen. Unbehaglich huschte mein Blick zum Fenster, ehe ich den Mut aufbrachte und das Wort schließlich aus meinem Mund stolperte. „Sie“, flüsterte ich so leise, dass Ms. Williams nachhakte. „Wie bitte?“ Ich räusperte mich, bevor ich eine Spur lauter wiederholte: „Sie ist in der zweiten Klasse.“ Augenblicklich brach Gekicher aus und ich hörte Nachsicht aus Emmas Stimme, als sie mich freundlich korrigierte. „Quinn, das hast du falsch verstanden“, erklärte sie. „Du bist ein Junge, kein Mädchen. Dementsprechend verwendest du „Er“ statt „Sie“.“ Während das Lachen hinter vorgehaltener Hand lauter wurde, hatte ich Mühe meine nächsten Worte hervorzuwürgen. „Aber ich… Ich bin ein Mädchen.“ Plötzlich gab es kein Halten mehr. „Der glaubt er ist ein Mädchen“, brüllte Maximilian in der letzten Reihe und die ganze Klasse johlte vor Lachen. Unsicher schaute ich zu Emma und begegnete ihrer verwirrten Miene. „Wieso lügst du mich an, Quinn?“, fragte sie traurig. In diesem Moment wurde mir klar, dass auch sie nicht verstand. Lippen, die nicht meine waren, begannen zu beben. Beine, die mir nicht gehörten, drohten zu versagen. Und Augen, durch die ich blickte, aber niemand mich sah, füllten sich mit Tränen. „I-Ich lüge nicht, Ms. Emma“, hörte ich eine Stimme schluchzen, die mir fremd und gleichzeitig furchtbar vertraut war. Tränen rannen mir jetzt heiß und salzig über das Gesicht, doch ich nahm sie kaum wahr. Zu präsent war das Kratzen in meinem Inneren. Hände, die über Knochen schabten. Blut, das sich in säurehaltige Lava verwandelte, als hätte mein Körper sich gegen mich gewandt. Mit jedem Atemzug schien meine Haut sich straffer um mich zu ziehen und ich glaubte zu ertrinken, während ich gleichzeitig verbrannte. Ich hätte alles getan, um mir die abscheuliche Hülle, in der ich lebte, vom Leib zu reißen, doch es gab kein Entkommen. Denn ich war gefangen. - Gefangen im falschen Körper. Die Gesichter meiner Mitschüler nahmen inzwischen mein gesamtes Blickfeld ein und drehten sich um mich herum im Kreis. Ihr Gelächter dröhnte laut in meinen Ohren und ich schmeckte Galle. Ms. Emma bemühte sich unterdessen Ruhe in das Geschrei zu bringen, aber erfolglos. „Schluss jetzt!“, erhob sich plötzlich eine zornig piepsende Stimme über alle anderen und dreiundzwanzig Augenpaare flogen herum. Die kleine Fay aus der ersten Reihe, sprang wütend von ihrem Stuhl, der mit einem lauten Knall hinter ihr zu Boden ging. Ihre grünen Augen sprühten Funken und das flammenrote Haar wehte wie ein Feuersturm, als sie in bunten Regenbogenringelhosen an die Tafel stürmte. Verblüfft beobachtete die ganze Klasse, wie sie wutentbrannt die Personalpronomen mit dem Tafelschwamm eines nach dem anderen wegwischte. „Ist doch egal, wenn Quinn ein Mädchen sein will“, kommentierte sie ungehalten. Dann schnappte sie sich die Kreide und begann krakelige Buchstaben mit Weiß auf Grün zu malen. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, drehte sie sich herum. „Wenn Felix Astronaut und ich Polizistin sein darf, dann kann Quinn auch ein Mädchen sein“, befand sie freimütig, bevor sie mit ihrer kleinen Hand an die Tafel patschte. „Das ist doch, was wirklich zählt.“ Ich musste die Tränen fortblinzeln und die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was sie geschrieben hatte. Dann spürte ich meine Lippen sich zu einem zaghaften Lächeln verziehen. Mit bunten Farben hatte Fay ein einziges Wort mehrfach eingekreist: Wir. Als sie an ihren Platz zurückkehrte, war die ganze Klasse überzeugt sie habe recht. Denn gegen diese Logik konnte niemand etwas einwenden.