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Die Menschheitsgeschichte Teil 222: Kapitel 687 - Der große Autor

Jasmin Lincke

Ich frage mich manchmal, in was für einer Welt wir leben würden, wenn nur ein einziger Augenblick unserer kollektiven Vergangenheit anders verlaufen wäre. Wenn sich statt des Homo sapiens eine andere Menschenaffenart durchgesetzt hätte oder unsere Vorfahren nie von den Bäumen geklettert wären? Wenn die großen Hochkulturen überdauert hätten, sodass ihr Wissen heute noch zugänglich wäre? Wie würde unsere Erde aussehen, hätten Drogen nicht von Anfang an unsere Entwicklung begleitet? Und in was für einer Gesellschaft würden wir uns wiederfinden, wenn Soldaten einfach „Nope“ und Untertanen „Mach doch deinen Scheiß alleine“ geantwortet hätten?

In meinem Buddha-Kalender steht: Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment. Aber als Autorin ist es sehr viel spannender, sich in fantastischen Welten zu verlieren. Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft: diese Gedankenexperimente faszinieren mich. Die Konsequenzen, die das Verändern eines winzigen Details nach sich ziehen würde … Denn mit Sicherheit sehe unser Leben anders aus, hätte sich die Elektrizität bereits in der Antike durgesetzt. Vielleicht wäre die Welt dann ein sauberer Ort. Vielleicht müssten wir uns um den Klimawandel keine Sorgen mehr machen - oder wären bereits seit dreitausend Jahren tot.

In Anbetracht der Alternativen ist es erstaunlich, dass wir gegenwärtig stehen, wo wir stehen. Mal ehrlich, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass wir es hierherschaffen würden, sodass genau dieser Ist-Zustand eintreten konnte? Trotz mangelhafter Stochastikkenntnisse würde ich behaupten gering. Rückläufig stellt sich deshalb die Frage: Wie zur Hölle war all das möglich?!

Ähnlich der verrückten Lady in Indiana Jones ertappe ich mich oft bei dem Gedanken: „Ich will alles wissen.“ Dass mir dadurch der Kopf platzen würde, hält mich nicht davon ab zu grübeln.

Viele kluge Köpfe haben versucht die Geheimnisse unseres Kosmos zu entschlüsseln und ähnlich der verrückten Lady aus Indiana Jones ertappe auch ich mich oft bei dem Gedanken: Ich will alles wissen! ich konnte einige ihrer Lehren studieren. Trotzdem werde ich das Ausmaß dieser scheinbar willkürlichen, aber doch zwangsläufigen Entwicklung nie verstehen. Zum Glück aber muss ich das auch gar nicht. Denn nicht umsonst heißt es: Schuster, bleib bei deinen Leisten.

Was ist real, was nicht? - das scheint am Ende die Kernproblematik. Der Franzose René Descartes erklärte einst: „Die einzige unmittelbar glaubwürdige Realität ist die Realität des Bewusstseins.“ Morpheus aus Matrix würde antworten: „Wie definierst du real?“

Ein kleiner Stromstoß in seinem Arm erinnerte ihn, dass seine Konzentration abschweifte und er zwang sich, langsamer zu atmen, um seine Vitalwerte zu beruhigen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er gelernt hatte, die Technik zu überlisten, aber inzwischen gelang es ihm ganz gut.

Sobald die einstudierten Konversationen vorüber waren, nahm er den Schnellzug in Richtung Maschinenraum. Während die klinisch reine Stadt an ihm vorbeiraste, beobachtete er die Gebäude hinter der Scheibe.

Alles hatte 2024 begonnen - als die Welt den Bach runtergegangen war. Damals hatten sie geglaubt, es bliebe Zeit, ehe sich Rohstoffgier und Klimawandel rächen würden. Er selbst war davon ausgegangen, der Super-GAU läge in ferner Zukunft, sodass er ihn nicht mehr erleben würde. Wie sehr man sich doch täuschen konnte. Wie schnell die Dinge sich änderten … Hungersnöte hatten überhandgenommen, Epidemie ganze Nationen dahingerafft und Anarchie den Rest getan. Am schwärzesten Tag der Menschheit waren die Regierungen gezwungen gewesen, den globalen Notstand auszurufen. Ein Konzept, das Experten im Verborgenen erarbeitet haben mussten, war kompromisslos umgesetzt worden und hatte unzählige Leben gekostet. Seitdem wohnte er in Gamma-Pi, einer von tausend identisch erbauten Hightech-Städten, voll von Computerstimmen, falschen Lächeln und Anonymität. Man hatte darauf geachtet, dass die Einwohner eines Bezirks sich nicht aus der Zeit vor der Katastrophe kannten. Um Konfliktpotenzial zu vermeiden, hieß es. Familien hatte es auseinandergerissen und Grenzen waren aufgelöst worden, um neue zu erschaffen. Bundesländer gab es nicht mehr. Nicht einmal Staaten. Nur noch die Neue Welt.

Er stieg aus dem Zug und betrat die „Halle der Maschine“. Augenblicklich umfing ihn Hitze und ein Wächter scannte seinen Chip.

Die „Maschine“ war der einzige Grund, dass sie überhaupt noch existierten. Durch sie war es möglich gewesen, die Erderwärmung zu stoppen und die Welt in einen sauberen Ort zu verwandeln. Da sie mit Muskelkraft betrieben wurde, schwang er sich in den Sattel eines Fahrradergometers, um wie Hunderte seines Distriktes zu schwitzten.

Eigentlich durfte er sich nicht beschweren, dachte er, während er gleichmäßig in die Pedale trat. Er gehörte zu den Wenigen, die überlebt hatten. Grimmig betrachtete er den Bildschirm unter seiner Haut. Doch was nützte das, wenn er nicht frei war?