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Step by step – oder wo zum Teufel geht’s hier lang?

Jasmin Lincke

Prinzessin Anna singt in „Die Eiskönigin 2“ darüber und Whitney Houston-Fans erinnern sich in besonders melancholischen Nächten immer noch an jede Zeile von „Step by Step“. Doch das Leben ist kein Wunschkonzert und die Sache mit dem nächsten Schritt meist komplizierter.

Konfuzius soll gesagt haben: „Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt“ - aber der hatte leicht reden… so als Konfuzius. Unglücklicherweise kann nicht jeder ein Laotse, Buddha oder Lessing sein. Dort draußen existieren zwar unzählige Lebensweisheiten, die uns auf Kurs halten wollen, wenn es darauf ankommt, wird man allerdings in den wenigsten Fällen Zeit haben danach zu googlen. Und mal ehrlich: Wie das Leben wirklich spielt, weiß doch eigentlich niemand, oder?

Ja, das Ding mit dem nächsten Schritt ist nicht so einfach, wie es sich anhört - das hat auch schon Whitney erkannt. Denn loszugehen oder gar weiterzukommen, kann verdammt schwer sein. Oftmals erfordert genau das eine Menge Mut, Kraft und Nerven wie Drahtseil. Weil es beängstigend ist, blind über den eigenen Schatten zu springen. Immerhin scheint selten gewiss, wo uns eine Entscheidung oder Handlung hinführt. Womöglich landet man dank dieser in einer zwielichtigen Sackgasse. Oder schlimmer noch! - Vielleicht befördert uns der nächste Schritt direkt über den Rand einer Klippe und dann heißt es Adios Amigos, Ciao Kakao - Paris, Athen, auf Wiedersehen!

Selbst wenn es in den wenigsten Do-or-die-Angelegenheiten tatsächlich um Leben und Tod geht, ändert das nichts an der Tatsache, dass damit verbundene Gedanken und Gefühle real sind. Sie existieren in einem verzerrten Weltbild in unseren Köpfen - größtenteils irrational, aber wirklich. Wie in einer Art Matrix kann dann schon mal der kleinste Schritt unmöglich erscheinen, insbesondere, wenn man gerade keinen Keanu Reeves an der Hand hat, der den Karren aus dem Dreck zieht. Die „Maschinen“, in Form von Ungewissheit und Angst, haben damit leichtes Spiel. Sie halten uns fest umklammert und können den Ausgang jedes Szenarios mit dem Worst Case besiegeln.

Kein Wunder also, dass Vorankommen und Entwicklung oft aussichtslos und die Umstände festgefahren wirken. Denn die Vorstellung zu scheitern oder eine Fehlentscheidung zu treffen, ist alles andere als kuschelig. Klar bringen einen Erfahrungen weiter, Fehler sind wichtig und blablabla, aber das bedeutet noch lange nicht, dass man sie gerne macht. Schließlich ist es nicht besonders angenehm an die eigene Unzulänglichkeit erinnert zu werden beziehungsweise den staubigen Boden der Tatsachen zu küssen. Denn der ist hart und dreckig. Vor allem aber ist es noch schwerer weiterzugehen, wenn man erst ganz unten angekommen ist.

„Mach nur den nächsten Schritt“, rät Anna aus „Die Eiskönigin 2“ in einer solchen Situation. Doch das ist leichter gesagt als getan. Normalerweise lösen sich Probleme nämlich nicht innerhalb eines Drei-Minuten-neununddreißig-Songs auf magische Weise in Luft auf. Normalerweise würde man in einer dunklen Höhle auch nicht auf die Idee kommen, mit einem Liedchen einen potenziellen Bären aufzuschrecken, aber das nur am Rande.

Es ist schwer, sich auf den Weg zu machen, wenn das Ziel oder dessen Erreichen Unsicherheit bedeuten. Besonders, wenn Gefahren diesen Weg pflastern, Hindernisse überwunden werden müssen und man sich ständig neuen Schwierigkeiten gegenüberfindet. Hinzu kommt, dass man nicht einmal die gesamte Strecke überblicken kann. Da fragt man sich doch, ob die Anstrengungen der Mühe wert sind. Ob man bereit ist All-in zu gehen und den Pfad zu betreten. Schließlich ist nicht gesagt, dass man ankommen wird, ob es überhaupt ein Ende gibt oder man verdammt ist, auf ewig dem Pass der Ungewissheit zu folgen.

In einem solchen Augenblick mit „Schritt für Schritt“ zu kommen ist genauso hilfreich wie mit einer Gießkanne die Wüste zu wässern. Zweifel sind lauert als gut gemeinte Worte und garstige Stimmen flüstern: Bin ich stark genug? Kann ich den längeren Atem beweisen? Und werde ich mich nach alldem überhaupt besser fühlen? Glücklicher? Erfüllt?

„Step by step“ ist wohl darüber hinaus für uns Menschen viel mehr eine Prüfung als ein guter Rat. Bekanntermaßen eigensinnig, wollen wir vorankommen - jetzt gleich! Wie aufsässige Kinder rennen wir deshalb blindlings darauf los, statt geduldig einen Fuß vor den anderen zu setzten. Bleiben wir schließlich stehen und blicken keuchend auf, verlieren wir den Mut. Entweder, weil wir uns verlaufen haben und nicht sehen, wo die Reise hinführt oder weil noch so viel vor uns liegt. Zwischen Tür und Angel überlegt man zweimal den nächsten Schritt zu tun. Denn plötzlich wohnt diesem eine beunruhigende Endgültigkeit inne, entfernt man sich doch von allem, was sicher und vertraut war. Man betritt unbekanntes Terrain und mit einem Mal ist alles möglich. Positive Veränderung, ja - aber viel wahrscheinlicher sind wir morgen alle tot.

Unumgänglich ist der nächste Schritt trotzdem. Denn gehen wir ihn nicht, wird er zum Problem. Ein Problem, das sich nur aus der Welt schaffen lässt, indem man es überwindet.

Doch dafür muss man das Problem erst einmal kennen, also wissen, wie besagter Schritt aussieht. Und das kann im 21. Jahrhundert die eigentliche Herausforderung sein.

Heutzutage gibt es unzählige Möglichkeiten, Optionen und Wege, aus denen es auszuwählen gilt. Das Leben gleicht einem Fundus an Gelegenheiten, sodass wir täglich hunderte Entscheidungen treffen müssen: Netflix oder Kino? Schokolade oder Chips? Yoga oder Snooze? - von rechts und links ganz zu schweigen …

So scheitern wir an den banalsten Fragen, wie können wir da sicher sein, was wir wollen und wo der nächste Schritt uns hinführen soll? Was, wenn dieser eine andere Chance ausschließt und bedeutet, eine Tür für immer zu schließen? Was, wenn man sich die Zukunft verbaut, anstatt sie für sich zu entscheiden? Und was wäre eigentlich, wenn man mit einem einzigen Entschluss die ganze Welt dem Untergang weihen würde? - Tja, dann müsste man sich zumindest keine Gedanken mehr über den nächsten Schritt machen.

Gerade in unserer schnelllebigen Zeit ist es manchmal schwer, mit dem Leben schrittzuhalten. Wir sind gefangen in unseren Alltagsstrukturen, drehen uns im Kreis und sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Oft glauben wir durch das Abhaken einer To-do-Liste unseren Zielen näher zu kommen, während wir auf der Stelle treten, uns in Routinen verlieren und die Jahre an uns vorbeirauschen, bis wir meinen es sei zu spät. Und eines Tages wird es das sein. Denn wir alle steuern unausweichlich auf den finalen letzten Schritt zu.

Vielleicht wird die Bedeutung des nächsten Schrittes erst angesichts dessen bewusst. Es ist wie mit dem berühmten Bein, das morgen abfällt: Wenn wir wüssten, dass wir nur noch 24 Stunden damit leben, würden wir heute nicht rennen und springen? Wäre es dementsprechend nicht besser, noch viele Schritte zu machen, als auf den Letzten zu warten? Wir sollten den nächsten Schritt wagen, solange wir noch können. Denn das Leben ist es wert, all die Chancen und Möglichkeiten zu nutzen, statt in Angst vor dem Unbekannten zu erstarren.